Kulturrelativismus und Menschenrechte
Kulturrelativismus und Menschenrechte

Kulturrelativismus und Menschenrechte

Kulturrelativismus und Menschenrechte

Eine Seminararbeit von Veronika Heitmeier im Rahmen des Proseminars “Grundfragen und Geschichte der Ethnologie“ von Prof. Dr. Magnus Treiber WiSe 2020/21.

Hier zum PDF:

Literaturverzeichnis

Einleitung

Theoretischer und historischer Hintergrund

  • Kulturrelativismus
  • Die Anfänge der Debatte um Kulturrelativismus und Menschenrechte

Moderne Positionen

  • „Critical anthropology of human rights“ nach Mark Goodale
  • “Relative universalism“ nach Ulf Johansson Dahre

Schluss

Die verwendete Literatur und die Fußnoten befinden sich im PDF.

Einleitung

Diese Seminararbeit geht der Frage nach, wie sich Kulturrelativismus und Menschenrechte zueinander verhalten. Das Ziel ist dabei, einen Überblick über einen der theoretischen Zugänge der Ethnologie im Allgemeinen zu geben, sowie im Besonderen in Bezug auf die Debatte um die Menschenrechte, wobei sowohl historische als auch moderne Positionen illustriert werden sollen. Dabei wird zunächst die Herangehensweise des Kulturrelativismus beschrieben sowie der Beginn der Debatte um die Menschenrechte. Anschließend werden zwei verschiedene Positionen zum Verhältnis von Kulturrelativismus und Menschenrechte dargestellt.

Theoretischer und historischer Hintergrund

Kulturrelativismus

Obwohl der Begriff „Kulturrelativismus“ erst später geprägt wurde, wurde der Grundstein für diese ethnologische Herangehensweise schon von Franz Boas gelegt. Er vertrat den Standpunkt, dass jede Kultur eigene Wertvorstellungen sowie Rahmenbedingungen ausbildet, die weltanschaulich geprägt sind. In seinem Werk The Mind of Primitive Man verdeutlichte er seine Ansicht, dass Verhalten nicht biologisch determiniert ist (wie damals überwiegend geglaubt wurde), sondern vielmehr durch erlernte kulturelle Konzepte beeinflusst (nach Petermann 2004: 651). Zusätzlich war Boas der Meinung, dass man Kulturen nur aus der emischen Sicht, also aus sich selbst heraus, betrachten sollte: „If it is our serious purpose to understand the thoughts of a people the whole analysis of experience must be based in their concepts, not ours.“ (Boas 1943, zitiert nach Petermann 2004: 650).  Konkret bedeutet dies, dass man kulturelle Phänomene nur aus dem jeweils eigenen weltanschaulichen Rahmen heraus interpretieren sollte, weil das Verständnis einer Kultur nur aus dem jeweiligen Kontext heraus möglich ist. Boas fasst die Grundgedanken des Kulturrelativismus in der Fachzeitschrift Science folgendermaßen zusammen: „It is my opinion that […] civilization is not something absolute, but that it is relative, and that our ideas and conceptions are true only so far as our civilization goes.” (Boas 1887: 589).  Diese Auslegung von Kulturrelativismus wird auch als “methodological cultural relativism“ bezeichnet (Donnelly 2007: 294).Obwohl der Begriff „Kulturrelativismus“ erst später geprägt wurde, wurde der Grundstein für diese ethnologische Herangehensweise schon von Franz Boas gelegt. Er vertrat den Standpunkt, dass jede Kultur eigene Wertvorstellungen sowie Rahmenbedingungen ausbildet, die weltanschaulich geprägt sind. In seinem Werk The Mind of Primitive Man verdeutlichte er seine Ansicht, dass Verhalten nicht biologisch determiniert ist (wie damals überwiegend geglaubt wurde), sondern vielmehr durch erlernte kulturelle Konzepte beeinflusst (nach Petermann 2004: 651). Zusätzlich war Boas der Meinung, dass man Kulturen nur aus der emischen Sicht, also aus sich selbst heraus, betrachten sollte: „If it is our serious purpose to understand the thoughts of a people the whole analysis of experience must be based in their concepts, not ours.“ (Boas 1943, zitiert nach Petermann 2004: 650).  Konkret bedeutet dies, dass man kulturelle Phänomene nur aus dem jeweils eigenen weltanschaulichen Rahmen heraus interpretieren sollte, weil das Verständnis einer Kultur nur aus dem jeweiligen Kontext heraus möglich ist. Boas fasst die Grundgedanken des Kulturrelativismus in der Fachzeitschrift Science folgendermaßen zusammen: „It is my opinion that […] civilization is not something absolute, but that it is relative, and that our ideas and conceptions are true only so far as our civilization goes.” (Boas 1887: 589).  Diese Auslegung von Kulturrelativismus wird auch als “methodological cultural relativism“ bezeichnet (Donnelly 2007: 294).

Beginn der Debatte um Kulturrelativismus in Bezug auf Menschenrechte

Die Diskussion um die Menschenrechte begann in der Ethnologie maßgeblich nach Ende des zweiten Weltkriegs, als die Vereinten Nationen 1948 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) verabschiedeten. Zwar wurde die universelle Gültigkeit der Menschenrechte erst 1993 explizit formuliert, dennoch basierte die AEMR von Beginn an auf der Annahme, dass es sich bei Menschenrechten um universell akzeptierte Normen handle (Dahre 2017: 611). Die Menschenrechte (nach den Vereinten Nationen) sind eine positive Formulierung von Rechten, legen damit aber gleichzeitig eine Norm fest, sie definieren indirekt, was, also zum Beispiel welches Verhalten, richtig oder falsch ist. Es handelt sich also um Wertungen, beispielsweise wird in der Präambel der AEMR formuliert, dass die Vereinten Nationen „beschlossen haben den sozialen Fortschritt und bessere Lebensbedingungen in größerer Freiheit zu fördern“ (Vereinte Nationen 1948).

Einige Ethnolog*innen, darunter auch Boas‘ Schüler Melville Herskovitz (Dahre 2017: 614), reagierten darauf mit einer eher extremen Auslegung des Kulturrelativismus, welche als „substantive cultural relativism“ (Donnelly 2007: 294) oder „cultural absolutism“ (Donnelly 2007: 294, nach Howard 1993) bezeichnet werden kann. Dabei wird der Kulturrelativismus eher als eine normative Lehre verstanden, die verlangt, dass kulturelle Unterschiede respektiert werden und dass Handlungen ausschließlich aus den Standards der jeweiligen Kultur heraus bewertet werden dürfen (Donnelly 2007: 294). Folglich hat keine Kultur die „Werthoheit“ über eine andere. Das Statement on Human Rights (1947) der American Anthropological Association (AAA) beinhaltet zum Beispiel den Vorwurf, dass die Werte, die den Menschenrechten zugrunde liegen, westlich geprägt sind, Werte wie Freiheit (siehe Zitat aus den AEMR oben) aber nur von der jeweiligen Kultur definiert werden können: „man isfree only when he lives as his society defines freedom” (AAA 1947: 543).

Aus dieser extremen Auslegung des Kulturrelativismus ergeben sich mehrere Probleme, wie zum Beispiel, dass intoleranter Relativismus genauso verteidigt wird wie toleranter Relativismus. Tatsächlich tendieren Ethnolog*innen heute dazu, in dieser Debatte keine extreme Position zu vertreten, sondern versuchen eher, eine Art „Mittelweg“ zu finden, einen Kompromiss zwischen den Gegensätzen des Kulturrelativismus und Universalismus. Daraus wurden zwei Positionen exemplarisch ausgewählt, die im Folgenden vorgestellt werden.

Moderne Positionen

“Critical Anthropology of human rights“ nach Mark Goodale

Mark Goodale spricht sich mit seiner „critical anthropology of human rights” gegen das Konzept der Menschrechte als universalistisches normatives Konstrukt aus, basierend auf der Annahme, dass die Menschenrechte in ihrer aktuellen hegemonialen Form ihr Ziel, gerechte Gemeinschaften zu schaffen, nicht erreichen können (2006: 491). Nach Goodale ist „a critical anthropology of human rights […] one that seeks to uncover the latent progressive potential underlying their core principles“ (2006: 491).  Als Alternative zu den Menschenrechten (wie in der AEMR) schlägt Goodale vor, einen analytischen Rahmen zu verwenden, der einen Mittelweg zwischen Universalismus und Relativismus darstellen soll: den „normativen Humanismus“. Dieser basiert auf der Annahme, dass Menschen oder Kollektive, wenn es keine Einschränkungen gibt, sich organisieren und normative Systeme kreieren, welche auf bestimmten grundlegenden menschenzentrierten Werten beruhen.[4] Die Ergebnisse dessen, also spezifische Rechte oder Gesetze, können allerdings nicht vorhergesagt werden, so die Annahme, was folglich eine Ablehnung der „immanent or metaphysical versions of universal human rights“ (2006: 492) bedeutet. Gleichzeitig handelt es sich aber auch nicht um einen extrem relativistischen Ansatz, da die möglichen Ergebnisse des normativen Humanismus durch „cognitive, physical and emotional requirements“ (Goodale 2006: 492) eingeschränkt sind, weshalb sie „roughly patterned“ sind. Dennoch könnten Menschenrechte auf lokaler Ebene entstehen, so Goodale, allerdings nicht durch ihre Universalität legitimiert, sondern durch die Bedingungen ihrer Entstehung. Folglich kehrt Goodales Ansatz die Richtung der Legitimierung von Menschenrechten um. Zusammen mit Goodales Kritik am „moralischen Imperialismus“ (2006: 491), welcher durch die institutionelle Verankerung von Menschenrechten entstanden sei, führt dies Dahre zum Schluss, dass Goodale es wohl für nötig hält, dass Menschenrechte lokal verankert werden anstatt global, und dass Menschenrechte in ihrer aktuellen Form demnach zu abstrakt seien und ihr Ziel nicht erreichen könnten (2017:  621). Dahre schließt daran die Kritik an, dass Goodales normativer Humanismus genauso abstrakt ist wie die von ihm kritisierten universellen Menschenrechte und er demnach nicht versteht, wie Goodales Ansatz dieses Problem lösen soll.

„Relative Universalism“ nach Ulf Johansson Dahre

Wie oben gezeigt kritisiert Ulf Johansson Dahre die Ansätze, die versuchen, einen Kompromiss zwischen den Gegensätzen Universalismus und Relativismus zu finden.[5] Dahres Herangehensweise stellt ebenfalls einen Kompromiss dar, allerdings werden hier die Gegensätze Universalismus und Kulturrelativismus nicht abgelehnt, sondern beide integriert, weshalb Dahre seinen Ansatz „relative universality“ nennt. Nach Dahre ist wichtig, zwischen konzeptuellem Universalismus, „the very idea of human rights“ (Donnelly 2007: 282), und substanziellem Universalismus, „the universality of a particular conception or list of human rights“ (Donnelly 2007: 282), zu unterscheiden. Menschenrechte sind, zumindest auf konzeptueller, abstrakter Ebene universal, dennoch sind sie in der praktischen Umsetzung nicht frei von Kulturrelativismus, da die abstrakt formulierten Menschenrechte vielfältige Möglichkeiten lokaler Auslegung zulassen (Dahre 2017: 623). Anhand eines Projekts in Westkalimantan, Borneo, zeigt Dahre, wie „people re-interpret and translate the rights to fit their own local legal doctrines and local social problems” (2017: 624), wenn der Staat als Instanz zur Sicherstellung der Menschenrechte ausbleibt. Bei dieser „Akkulturation“ entstehen zwei Arten des Verständnisses von Menschenrechten: die lokale Auslegung der Menschenrechte und wie der universelle Diskurs über Menschenrechte und die lokale Auslegung aufeinander einwirken (Dahre 2017: 624). Dahre schlägt, anders als Goodale, nicht die Abschaffung der Menschenrechte im Sinne der AEMR vor, sondern die lokalen, pragmatischen Auslegungen der universellen Prinzipien zu betrachten. Nur dadurch könnten die Menschenrechte „locally useful“ (Dahre 2017: 623) werden und Bedeutung erhalten für die konkrete Lebenswirklichkeit von Menschen. Dahre gibt aber gleichzeitig zu, dass die Anwendung von Menschenrechten in konkreten Umständen schwierig ist, da die Rechte auf drei Ebenen, der lokalen, nationalen und internationalen ausgehandelt werden. So entstehen zum Beispiel auf internationaler Ebene Erwartungen in Bezug auf Menschenrechte, deren Umsetzung auf lokaler Ebene stellt sich allerdings als schwierig heraus, da der Staat, die nationale Ebene, als Zwischeninstanz fungiert, welchem im Fall von Borneo zumindest, stark misstraut wird (Dahre 2017: 625).

Schluss

Wie die Arbeit gezeigt hat, sind Kulturrelativismus und (universell formulierte) Menschenrechte nicht zwingend unvereinbar. Zwar gab es extremere Auslegungen des Kulturrelativismus, die genau dies behaupteten, moderne Ansätze suchen aber eher nach einer Kompromisslösung, die eine relativistische Herangehensweise mehr oder weniger miteinbeziehen, wie anhand der Ansätze von Goodale und Dahre exemplarisch gezeigt wurde. 

Dabei kommt mir Dahres „relative universalism“ sinnvoller vor als Goodales „critical anthropology of human rights“, auch wenn Dahre selbst schon die Schwierigkeiten bei der Umsetzung seines Ansatzes aufzeigt. Goodale äußert zwar viel Kritik am bestehenden Konzept der Menschenrechte, welche durchaus valide ist, und zieht daraus auch wiederum logische Schlussfolgerungen. Dennoch ist am Ende nicht klar, wie die genaue Umsetzung des normativen Humanismus aussehen soll, zumal dieser auf einer theoretischen, recht abstrakten Annahme beruht, welche durch keinerlei Empirie gestützt zu sein scheint.[6]

Dahre dagegen arbeitet zwei wichtige Punkte heraus, die zentral für die Diskussion um Relativismus und Menschenrechte sind. Erstens, “[t]ension between universalism and relativism is, contrary to what the UDHR implies, a social reality and one cannot simply be wished away” (2017: 626) und zweitens, “[a]t an abstract conceptual level it is easy to say that human rights nowadays are universal, at least in the sense of being accepted and integrated in many national political and legal systems” (2017: 623). Dahre argumentiert also, dass es sinnlos ist, sich dem einen oder anderen Extrem zu verschreiben und dass universelle Menschenrechte bis zu einem gewissen Grad schon weltweit implementiert sind. Seine Herangehensweise scheint demnach konstruktiver zu sein als Goodales Vorschlag, der sich explizit gegen die universellen Menschenrechte ausspricht. Dahres Ansatz ist auf theoretischer Ebene plausibel und zugleich an einer praktischen Umsetzbarkeit orientiert.