Übers Sehen & Übersehen
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+++ English Version below +++

Übers Sehen & Übersehen

Ein kritischer & konstruktiver Essay über MacDougalls Unterscheidung zwischen „Seeing“ & „Looking“

Einleitung

In den Essays „Meaning and Being“ differenziert MacDougall poetisch zwischen den Tätigkeiten „Seeing“ und „Looking“ (MacDougall 2006, 7): Das „Seeing“ umfasst einen insofern soziokulturell-geprägten Blick, dass die Dinge durch Kategorien und Konzepte wahrgenommen werden. Indem wir unser Vorwissen und unsere Werte auf Objekte projizieren, reflektieren wir uns ein Stückweit in ihnen. Dabei besteht die Gefahr nur das zu sehen, was wir im Vorhinein erwarten (MacDougall 2006, 1). Das „Looking“ hingegen habe eine aufmerksame, unvoreingenommene Perspektive zur Umwelt, um die Dinge durch ein befreites Bewusstsein und eine erhöhte, empirische Sensibilität wahrzunehmen (MacDougall 2006, 7).

Die Konsum- sowie Sehgewohnheiten haben sich zum Beispiel in der heutigen Aufmerksamkeitsökonomie stark verändert: Wir praktizieren vielmehr „Seeing“ als „Looking“ (MacDougall 2006, 7–8). Die audiovisuellen Inhalte sind meist von einer rastlosen Jagd auf immer neue Bilder geprägt und verkörpern die Angst die Zuschauer:innen zu langweilen (MacDougall 2006, 7–8). MacDougalls Unterscheidung zwischen „Seeing“ und „Looking“ soll im Rahmen der Fotographie, Leser:innen inspirieren, ihre Augen schulen und animieren über Sehgewohnheiten zu reflektieren. Obwohl sein Konzept intuitiv Sinn ergibt, kritisiert dieser kurze Essay die Möglichkeit einer unbefangenen Perspektive und schlägt stattdessen mithilfe von Latours Akteur-Netzwerk-Theorie ein alternatives Konzept vor, die eigenen Sinne für die Fotographie oder das Filmemachen zu schärfen.

Unmöglichkeit einer unvoreingenommenen Perspektive

MacDougalls Begriff des „Looking“ setzt eine soziokulturell spezifische Unvoreingenommenheit vor, indem wir uns in einen befreiten sowie erhöhten, sensorischen Zustand begeben und die Dimensionen unserer Beurteilung reflektieren, um die Umwelt wertfrei zu beobachten (MacDougall 2006, 7). Obgleich „Looking“ oder „Seeing“ – wenn die Form des Sehens einem Bild oder Film vorangeht (MacDougall 2006, 6–7), sind Bilder oder Filme immer höchst subjektiv, da sie einen Standort, eine Perspektive, einen Bildausschnitt und eine Momentaufnahme inhärent haben, und darüber hinaus ihnen eine Intention eingeschrieben werden kann (Heidemann 2011, 256). Gleichzeitig ist sowohl der Prozess der Bildwerdung als auch die Rezeption der Bilder durch Betrachter:innen eine Art interpretative „Blackbox“, in der unter anderem die individuelle soziokulturelle Vorprägung die Inhalte des Bildes zu entschlüsseln hilft (Heidemann 2011, 256–58). Mit Wendl ließe sich eine kulturspezifische Bildkompetenz sowie kulturspezifische Grammatik des Sehens im Allgemeinen bestätigen (Wendl 1996, 175 ff.).

Im „RCC Environmental Photography Workshop” vermittelte Dr. Alison Pouliot zum Beispiel bestimmte Techniken, die sie als hilfreich identifizierte, um wahrgenommene Objekte in der Natur mit eben kulturellen Sehgewohnheiten zu portraitieren (vgl. Keilhack 2024). Dass ein gutes Bild zunächst eine Intention braucht oder die zu sehenden Objekte im Mittelpunkt isoliert oder dass wir nach sich wiederholenden Strukturen Ausschau halten sollen, sind Techniken des „Seeing“, indem wir unsere Umwelt gerade durch eine soziokulturelle Linse wahrnehmen und interpretieren wollen.

Darüber hinaus sind das westliche Weltverständnis und unsere heutige Wahrnehmung der Umwelt stark durch das europäische geistige Erbe geprägt, insbesondere durch die platonische Tradition. In der griechischen Philosophie wurde zwischen (1)Eidos“ – der unsichtbaren und idealen Welt der Formen – und (2)Eikon“ – dem sichtbaren Abbild dieser Formen – sowie (3) „Phantasma“ – der trügerischen Erscheinung – unterschieden (Mitchell 2008, 15). Der Begriff „Idee“ selbst leitet sich vom griechischen „idein“ (sehen, erblicken) ab und verweist damit auf eine enge Verbindung zwischen den Bereichen des Sichtbaren und des Denkbaren. Auch das verwandte „Eidolon“ (sichtbares Bild) zeigt, dass die Grenze zwischen sinnlicher Wahrnehmung und abstrakter Erkenntnis im antiken Denken nicht absolut war (Mitchell 2008, 15). Dennoch führte die Philosophie Platons zu einem idealistischen Dualismus: Sie trennte die unsichtbare Welt der Ideen, die als ewig und vollkommen galt, von der sichtbaren Welt der materiellen Dinge, die als vergänglich und unvollkommen angesehen wurde (Latour 2000, 10 ff. vgl. Hall und Ames 1995, 72). Diese Denkweise prägte nachhaltig das europäische Verständnis von Geist und Materie und wirkt bis heute in unserem Weltbild nach.

Die Form des Sehens hängt unweigerlich mit dem finalen Produkt eines Bildes oder Filmes zusammen. Bilder sind sowohl durch ihren subjektiven Entstehungsprozess als auch aufgrund unseres ontologischen Verständnisses kulturell geprägt. Mit den Begriffen „Seeing“ und „Looking“ beabsichtigt MacDougall vermutlich eher einen graduellen Unterschied zu markieren, um die kreative Fähigkeit des Menschen zu beschreiben, sich seiner Prägungen bewusst zu werden und seine Perspektive zu wechseln – doch seine Erklärung ist irreführend, denn der Mensch kann seiner Voreingenommenheit nicht entkommen.

Alternatives Konzept der Weltwahrnehmung

Zu Anfang der ikonischen Wende – „Pictorial Turn“ nach Mitchell oder auch „Iconic Turn“ nach Boehm –  wurden Bildern eine gewisse Macht und ein Wille zugesprochen, die Blicke der Zuschauer:innen auf sich zu ziehen (Belting und Mitchell 2008, 8 ff. Mitchell 2008, 17). Mitchell beseelt und personifiziert Bilder sogar insofern, dass sie unsere Aufmerksamkeit begehren und mit ihrem „Gesicht“ unsere Blicke schweigend erwidern, in einem „Feld visueller Reziprozität“ (Belting und Mitchell 2008, 50–67). Das, was Bilder begehren, ist nicht gleich der Botschaft oder der Wirkung von Bildern auf ihre Zuschauer:innen: „Was Bilder also letztendlich wollen, ist, einfach danach gefragt zu werden, was sie wollen – unter der Voraussetzung, dass die Antwort sehr wohl lauten mag: überhaupt nichts.“ (Belting und Mitchell 2008, 66–68). Im Falle MacDougalls ist die Möglichkeit durchaus attraktiv, das Bild als Aktant zu erkennen, wenn auch Mitchells Darstellung plakativ-kitschig ist und den „Willen“ eines Bildes von der Botschaft getrennt betrachtet.

Mithilfe von Latours Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) lässt sich ein alternatives Konzept der Weltwahrnehmung entwickeln, das im Vergleich zu MacDougalls Ansatz des Sehens mindestens ebenso anregend für einen Perspektivwechsel ist (Latour 2005; 1991). Die platonische Tradition hat unser Denken stark durch einen anthropozentrischen Individualismus geprägt: Akteur:innen werden oft als autonome Schöpfer:innen kreativer Ideen verstanden, unabhängig von der Umwelt, in der sie sich befinden. ANT bietet hingegen eine andere Sichtweise, indem sie Akteur:innen (Menschen) und Aktanten (nicht-menschliche Entitäten wie Objekte, Technologien oder Umgebungen) als miteinander vernetzt betrachtet (Latour 2000). Beide Gruppen interagieren in kreativen Prozessen – sei es in der Fotografie oder bei der Interpretation von Bildern. Kreativität entsteht hier nicht durch das isolierte Schaffen eines Individuums, sondern durch die dynamische Wechselwirkung zwischen Akteur:innen und Aktanten (vgl. Latour 2000, 219). Diese Interaktionen eröffnen gemeinsam ein neues Feld von Möglichkeiten, das durch ihre Verbindungen definiert wird (vgl. Latour 2000, 217 ff.). Besonders in der Naturfotografie zeigt sich deutlich, wie das Verhältnis zwischen Fotograf:in und Umwelt eine zentrale Rolle spielt.

Darüber hinaus ist die westliche Tradition durch eine klare Trennung der Sinneswahrnehmungen geprägt, wobei das Sehen als dominanter Sinn gilt. Häufig wird die geistige Konstruktion der Umwelt in einer (1) monokausalen und (2) unidirektionalen oder kausal-linearen Weise interpretiert, bei der Reize ausschließlich von der Umwelt ausgehen und eine festgelegte Wirkung auf die Sinneswahrnehmung haben. Tatsächlich ist das Sehen jedoch ein komplexer Prozess, der (1) nicht unabhängig von anderen Sinneswahrnehmungen funktioniert und (2) aus einem Zusammenspiel von u.a. Körper, Standort, Perspektive, Ausschnitt und Moment besteht.

Schluss

Und so kommt es, dass ich in diesen 4 Seiten meine Bachelorarbeit über Kreativität widerlegt habe (vgl. Keilhack 2023). Ausgehend von MacDougalls Unterscheidung zwischen „Seeing“ und „Looking“, widerlegt dieser Essay die Aussage, dass eine unvoreingenommene Form des Sehens gibt, zumal Sehen und Bilder soziokulturell stark geprägt sind und überhaupt auch nur durch das ontologische Konzept eines cartesischen Dualismus verstanden werden können. Im Anschluss entwickle ich mithilfe Latours Akteur-Netzwerk-Theorie ein alternatives Konzept der Weltwahrnehmung, die MacDougalls Intention seiner Unterscheidung gerecht kommt. Während die Unterscheidung zwischen „Seeing“ und „Looking“ die Notwendigkeit der achtsamen Wahrnehmung der Umwelt im Hinblick auf die heutigen, teilweise anspruchslosen Sehgewohnheiten falsch begründet, unterstreicht das alternative Konzept, dass Wahrnehmung durch alle Sinnesorgane gleichzeitig interaktiv geschieht und der kreative Akt der Interpretation im Verhältnis zwischen dem Betrachter:innen und ihren Objekten in der Umwelt liegt. Vielleicht schenkt der Essay ja für Fotograph:innen sowie Filmschaffende eine inspirierende Perspektive, die eigenen Sinne zu schärfen und auf neue Details aufmerksam zu werden.

+++ English Version +++

On Seeing & Overlooking

A Critical and Constructive Essay on MacDougall’s Distinction Between „Seeing“ and „Looking“

Introduction

In his essays Meaning and Being, MacDougall poetically differentiates between the activities of „seeing“ and „looking“ (MacDougall 2006, 7). „Seeing“ refers to a socioculturally shaped gaze, where things are perceived through the lens of categories and concepts. By projecting our prior knowledge and values onto objects, we partially reflect ourselves in them. This carries the risk of seeing only what we expect to see in advance (MacDougall 2006, 1). In contrast, „looking“ is described as an attentive, unbiased perspective toward the environment, allowing one to perceive things with a liberated mind and heightened empirical sensitivity (MacDougall 2006, 7).

For instance, consumption and viewing habits have significantly shifted in today’s attention economy: we engage more in „seeing“ than in „looking“ (MacDougall 2006, 7–8). Audiovisual content is often characterized by a restless pursuit of ever-new images, driven by a fear of boring its audience (MacDougall 2006, 7–8). MacDougall’s distinction between „seeing“ and „looking“ aims to inspire readers, within the context of photography, to train their eyes and reflect on their viewing habits.

While his concept intuitively makes sense, this short essay critiques the possibility of an unbiased perspective and proposes an alternative approach to sharpening one’s senses for photography or filmmaking through Latour’s Actor-Network Theory.

The Impossibility of an Unbiased Perspective

MacDougall’s concept of „looking“ assumes a socioculturally specific form of unbiased observation, where we enter a liberated and heightened sensory state, reflecting on the dimensions of our judgment to observe the environment without value judgments (MacDougall 2006, 7). However, whether through „looking“ or „seeing“—when the act of seeing precedes the creation of an image or film (MacDougall 2006, 6–7)—images and films are inherently subjective. They are shaped by a specific position, perspective, framing, and moment in time and often carry an intentionality inscribed within them (Heidemann 2011, 256). Moreover, both the process of creating images and their reception by viewers function as interpretative „black boxes,“ where individual sociocultural preconditioning helps decode the content of the image (Heidemann 2011, 256–58). As Wendl suggests, visual competence and the cultural grammar of seeing are always culturally specific (Wendl 1996, 175 ff.).

For instance, in the RCC Environmental Photography Workshop, Dr. Alison Pouliot shared specific techniques she identified as useful for portraying objects in nature through culturally informed visual habits (cf. Keilhack 2024). Techniques such as isolating the intended subject of focus, seeking repeated patterns, or beginning with a clear artistic intention are examples of „seeing“ in the sense that they consciously apply a sociocultural lens to perceive and interpret the environment.

Furthermore, Western perceptions of the world and our contemporary understanding of the environment are deeply influenced by the European intellectual heritage, particularly the Platonic tradition. Ancient Greek philosophy distinguished between (1) Eidos—the invisible and ideal world of forms, (2) Eikon—the visible representation of these forms, and (3) Phantasma—the deceptive appearance (Mitchell 2008, 15). The term „idea“ itself originates from the Greek word idein (to see, to behold), emphasizing a close connection between the realms of the visible and the conceptual. Similarly, the related term Eidolon (visible image) illustrates that the boundary between sensory perception and abstract understanding was not absolute in ancient thought (Mitchell 2008, 15). Nevertheless, Platonic philosophy gave rise to an idealistic dualism that separated the invisible, eternal, and perfect world of ideas from the visible, transient, and imperfect material world (Latour 2000, 10 ff.; cf. Hall and Ames 1995, 72). This dualistic framework profoundly shaped the European understanding of mind and matter and continues to influence contemporary worldviews.

The act of seeing is inevitably connected to the final product of an image or film. Images are shaped both by the subjective processes of their creation and by our ontological understanding, which is itself culturally determined. Through the concepts of „seeing“ and „looking,“ MacDougall likely aims to mark a gradual distinction, emphasizing humanity’s creative capacity to become aware of its conditioning and to shift perspectives. However, his explanation is misleading, as humans cannot fully escape their inherent biases.

An Alternative Concept of World Perception

At the beginning of the iconic turn—referred to as the „Pictorial Turn“ by Mitchell or the „Iconic Turn“ by Boehm—images were attributed a certain power and agency to attract the gaze of viewers (Belting and Mitchell 2008, 8 ff.; Mitchell 2008, 17). Mitchell even animates and personifies images, suggesting that they desire our attention and silently reciprocate our gaze with their „face“ within a „field of visual reciprocity“ (Belting and Mitchell 2008, 50–67). What images „desire“ is not necessarily equivalent to their message or the effect they have on their viewers: „What images ultimately want is simply to be asked what they want—on the condition that the answer might well be: absolutely nothing“ (Belting and Mitchell 2008, 66–68).

In the case of MacDougall, the notion of recognizing the image as an actant is certainly appealing, even if Mitchell’s portrayal is overly dramatic and separates the „will“ of an image from its message.

Using Latour’s Actor-Network Theory (ANT), an alternative concept of world perception can be developed, one that is at least as inspiring for a shift in perspective as MacDougall’s approach to seeing (Latour 2005; 1991). The Platonic tradition has profoundly shaped our thinking through an anthropocentric individualism, where agents are often understood as autonomous creators of ideas, independent of the environment in which they exist. ANT, on the other hand, offers a different perspective by viewing agents (humans) and actants (non-human entities such as objects, technologies, or environments) as interconnected within networks (Latour 2000). Both groups interact in creative processes—whether in photography or the interpretation of images. Here, creativity arises not from the isolated efforts of an individual but from the dynamic interplay between agents and actants (cf. Latour 2000, 219). These interactions collectively open up a new field of possibilities defined by their connections (cf. Latour 2000, 217 ff.). This dynamic is particularly evident in nature photography, where the relationship between the photographer and the environment plays a pivotal role.

Furthermore, the Western tradition is characterized by a clear separation of sensory perceptions, with sight regarded as the dominant sense. The mental construction of the world is often interpreted in (1) monocausal and (2) unidirectional or causal-linear terms, where stimuli are understood to originate exclusively from the environment and produce fixed effects on sensory perception. In reality, however, seeing is a complex process that (1) does not function independently of other sensory perceptions and (2) results from an interplay of factors such as the body, location, perspective, framing, and moment in time.

Conclusion

Thus, in these four pages, I have refuted my own bachelor’s thesis on creativity (cf. Keilhack 2023). Starting with MacDougall’s distinction between “Seeing” and “Looking,” this essay challenges the claim that an unbiased form of seeing exists, given that both seeing and images are profoundly shaped by sociocultural contexts and can only be understood through the ontological framework of Cartesian dualism. Subsequently, I develop an alternative concept of world perception using Latour’s Actor-Network Theory, aligning with MacDougall’s intention behind his distinction.

While the differentiation between “Seeing” and “Looking” mistakenly grounds the need for mindful environmental perception in the critique of today’s often superficial visual habits, the alternative concept emphasizes that perception occurs interactively through all senses simultaneously. Furthermore, it highlights that the creative act of interpretation emerges from the relationship between viewers and the objects within their environment.

Perhaps this essay offers photographers and filmmakers an inspiring perspective to sharpen their senses and become more attuned to new details in their surroundings.

Autor & Redaktion: Felix Keilhack (LMU)