Kulturrelativismus als wissenschaftliche Methode 
Kulturrelativismus als wissenschaftliche Methode 

Kulturrelativismus als wissenschaftliche Methode 

+++ English Version below +++

(1) Kulturrelativismus als Wissenschaftliche Methode

Die heuristische Methode des Kulturrelativismus betrachtet, interpretiert und beurteilt kulturelle Phänomene innerhalb ihres Kontexts, also aus der emischen Perspektive. Dabei befreit sie sich von der Ethnozentrik, indem objektive, universelle Vorstellungen und Vorannahmen vermieden werden. Ziel des Relativismus sei es, eine fremde Perspektive hermeneutisch zu verstehen. Daraus folgt, dass Wissenschaftler:innen ein gewisses Maß an Ambiguitätstoleranz sowie Respekt gegenüber fremden Kontexten aufbringen müssen.

Vorteile des Relativismus sind, dass Wissenschaftler:innen mit dessen Anwendung alternative Perspektiven entdecken sowie explorieren und die Wissenschaft progressiv entwickeln können.

Um Missverständnisse um den Begriff des Relativismus zu beseitigen, unterscheidet Jiang Tianji zunächst zwischen dem semantischen Wahrheitsbegriff als Konzept und dem epistemischen, relativen Wahrheitsbegriff (vgl. Jiang 1991). Einerseits ist „Wahrheit“ ein semantisches Konzept, d.h. es beschreibt einen objektiven, absoluten Inhalt der Realität. Andererseits muss das semantische Konzept der „Wahrheit“ im Hinblick auf die Epistemik neu definiert und in der wissenschaftlichen Praxis relativ verstanden werden, d.h. der Erkenntnisgewinn von Inhalten geschieht subjektiv und erfordert Relativität.

Subjektivität und Objektivität

Im Umgangssprachlichen beschreibt das Adjektiv „subjektiv“, dass eine bestimmte Information mit persönlichen Gefühlen oder Vorurteilen behaftet ist. Das Adjektiv „objektiv“ sei demgegenüber ein Ansatz, Informationen sachlich, emotionslos und unbefangen wiederzugeben. Dieser Dualismus zwischen Subjektivität und Objektivität existiert auch in der Wissenschaft, doch meist wird dieser missverstanden.

Der Relativismus negiert zunächst die Annahme, dass es eine einzige, objektive, universelle Welt gibt, die unabhängig vom Menschen existiert. Wissenschaftler:innen sind oft von der Konzeption überzeugt, dass sogenannte Fakten als objektive Informationen frei von subjektiven Eigenschaften seien. Subjektivität sei oft negativ konnotiert und werde dabei als unwissenschaftlich beschrieben. Informationen existieren jedoch nicht unabhängig von ihrer Erschaffer:in, denn jede Information wurde von einem Subjekt erschaffen und erhält gewisse subjektive Attribute, wie zum Beispiel Position, Perspektive, Auswahl und Interpretation.

Objektivität, in ihrer ursprünglichen Form, ist eine anthropogene Annahme, dass Wissen in Form von Informationen (1) unabhängig von der Perspektive der Wissenschaftler:innen und (2) unabhängig vom Kontext der Situation (3) einen Zustand der Realität beschreibt.

(1) Ob in Form von Ergebnissen einer Feldforschung oder Kombination von wissenschaftlichen Arbeiten – Wissen unterliegt der (kreativen) Leistung der Wissenschaftler:innen. Der Leistung liegt dabei immer eine individuelle sowie persönliche (Ausgangs)Position, Perspektive und Ausschnitt zugrunde. Wissenschaftler:innen wählen zum Beispiel mit ihren Interessen ihre Forschungsobjekte, unterliegen ihren eigenen Vorannahmen sowie Erwartungen und ziehen nicht zuletzt subjektive Schlüsse. Das Ergebnis der individuellen Erkenntnisse ist ein relatives Wissen. Relatives Wissen kann dabei auch in gewissem Maße verallgemeinert und mit anderen Erkenntnissen verglichen werden, wobei die Relativität dadurch nicht verloren geht.

(2) Wissen entstammt einem Kontext und wird immer konstruiert. Wissen kann zwar teilweise in Form von Modellen zur Vorhersage von bestimmten Phänomenen verallgemeinert werden, indem spezifische Erkenntnisse aus dem jeweiligen Kontext gehoben werden; doch unterliegt ein Modell immer einer probabilistischen Vorhersagekraft. Aus der Komplexität der Welt lässt sich schließen, dass jeder Kontext gewisse Partikularitäten aufweist. Im Hinblick auf eine voranschreitende Sensitivität in den Wissenschaften nimmt die Bedeutung von kontextueller Relativität zu.

(3) Sowohl die Annahme, dass es objektive Fakten gibt, als auch Modelle im Allgemeinen betrachten die Realität als einen festen Zustand (oder als einen Zustand, den es festzuhalten gilt.) In der Physik mag es wohl einige Konstanten geben; so ist jedoch die soziale sowie kulturelle Realität der Menschen äußerst dynamisch. Sprachen, Beziehungen, Gewohnheiten, Werte, Normen, Bedeutungen, Erinnerungen, Meinungen und nicht zuletzt Vorlieben, und eben auch Wissen, sind stets im Wandel. 

Frei nach Pierre Bourdieu, basiere auch die Objektivität der Naturwissenschaften auf subjektiven, anthropogenen Entscheidungen vgl. Bourdieu 2003). Die Welt der Zahlen mag wohl unabhängig vom Menschen existieren, doch scheint sie irrelevant zu sein, wenn Menschen sie nicht auf die Realität projizieren würden. Keiner würde die Ontologie der Zahlen „eins“ oder „zwei“ bestreiten; doch ist die Interpretation von bestimmten Objekten als in Zahlen beschriebenen Einheiten höchst subjektiv. Ein Huhn ist zugleich zwei halbe Hähnchen.

Kritik des Kulturrelativismus

Oft wird der Kritikpunkt hervorgehoben, dass der Kulturrelativismus bestimmte Schwächen in ethischen Extremsituationen aufweisen würde, weil der relativistische Ansatz eine universelle Ethik negieren würde. Auch gibt es den Vorwurf, dass ein methodischer Relativismus zu einem Nihilismus verleite. 

Unter anderem verteidigt Bimal Matilal den Relativismus gegenüber dem Singularismus oder Pluralismus (Matilal 1989). Während der Singularismus für nur ein universelles, absolutes Ideal plädiert, und der Pluralismus viele verschiedene Ideale akzeptiert, geht der Relativismus einen Schritt weiter, indem er transkulturelle Ethiken zunächst toleriert und respektiert. Matilal bestätigt, dass Wissenschaftler:innen mithilfe des Kulturrelativismus keine normativen Aussagen treffen können (ebd.). Die Auslegung der Ethik konfligiert mit einer relativistischen Perspektive. Allerdings ist eine Beurteilung eines fremden, ethischen Kontextes nicht das Ziel des Kulturrelativismus. Der methodische Relativismus akzeptiert ethische Vielfalt und fragt, inwiefern, wie sehr und wodurch sich die fremde Ethik von der eigenen unterscheidet (ebd.). 

Relativismus ermöglicht transkulturelles Verstehen, doch verweigert Evaluation (Jiang 1991). Das heißt nicht, dass eine Evaluation nicht doch möglich wäre (ebd.). Wissenschaftler:innen können sehr wohl ihre Erkenntnisse über eine fremde Kultur mithilfe ihrer Standards bewerten (ebd.). Die relativistische Methode hilft Wissenschaftler:innen, einen fremden kulturellen Kontext zu verstehen, wobei Verstehen nicht äquivalent zu einer Einwilligung ist (ebd.). Es ist also falsch zu behaupten, dass der (Kultur)Relativismus zu einem Nihilismus führt (ebd.).

Zuletzt geht Matilal von der Theorie aus, dass es einen transkulturellen, minimalen, universellen, moralischen Standard gibt, ausgehend von der empirischen Feststellung, dass ähnliche kultur-unabhängige, menschliche Sorgen in jeder Gesellschaft existieren (Matilal 1989). Dieser mutuale Standard habe im Vergleich zum Universalismus oder Singularismus keine transkulturelle Verbindlichkeit. Die Theorie versucht lediglich Wissenschaftler:innen die Sorge zu nehmen, dass in ethischen Extremsituationen verschiedene Individuen tendenziell ähnlich handeln würden. Diese Theorie ist durchaus optimistisch und natürlich fragwürdig.

Quantitative vs. Qualitative Weltanschauung

Objektivität existiert insofern, dass sie in der Wissenschaft einen „groben“ Konsens vieler Wissenschaftler:innen repräsentiert, durch welche Maßstäbe wir unsere Umwelt verstehen (sollen). Die Längeneinheit Meter ist zum Beispiel eine Basiseinheit der Länge im Internationalen Einheitensystem, die gesellschaftlich akzeptiert ist. Insbesondere in den Naturwissenschaften und in ihrem kommerziellen Anwendungsbereich werden bestimmte Einheitensysteme verwendet. Diese Systeme können für eine quantitative Weltanschauung verwendet werden. Zur Erinnerung: Diese Objektivität repräsentiert allerdings keine absolute, universelle Wahrheit der Realität. 

Die Geisteswissenschaften fokussieren sich gegenüber den quantitativen Forschungen auf eine qualitative Weltanschauung. Insbesondere die Disziplin der Ethnologie weist mit ihrem methodischen Kulturrelativismus darauf hin, dass neben einem „groben“ Konsens über quantitative Einheitensysteme auch zahlreiche alternative qualitative Weltanschauungen koexistieren. Diese können auch manchmal mit der quantitativen Weltanschauung konfligieren. Statt einer Reduktion auf quantitative Ansätze schlägt der Kulturrelativismus vor, die Partikularitäten der Vielfalt und die daraus resultierenden Ambivalenzen zu akzeptieren und zu zelebrieren, da mehrere, qualitative Ansätze die Wissenschaft progressiv ergänzen.

Relativismus in der Praxis: China vs. Westen 

China bietet sich für die Anwendung des methodischen Kulturrelativismus an, einerseits als äußerst spannendes Forschungsfeld, andererseits als komplizierte Herausforderung. Obwohl die Volksrepublik China durch ihren Nationalismus ein homogenes Bild der eigenen Kultur suggeriert, so ist sie besonders vielfältig und heterogen im Inneren.

Westliche Medien scheinen die chinesische Regierung sehr kritisch darzustellen. Der Ansatz des Relativismus schlägt vor, die soziale Situation zu erörtern und die politische Linie hermeneutisch zu verstehen. Auch wenn individuelle Wissenschaftler:innen des Westens persönlich skeptisch gegenüber der chinesischen Ideologie sein können, so verdient das Land China meiner Meinung nach eine Chance, im Rahmen des Relativismus zunächst wissenschaftliche Toleranz zu erhalten, bevor Urteile gefällt werden. Die hybride Ideologie aus chinesischem Marxismus und Nationalismus mag wohl aufgrund ihrer fundamentalen Andersartigkeit gegenüber westlichen Ansätzen Wissenschaftler:innen in Versuchung führen, westliche Standards der Ethik auf China anzuwenden. Wäre es nicht im Sinne des Relativismus, die betroffenen Bürger:innen der Volksrepublik Chinas über die Konsequenzen der chinesischen (Innen-)Politik zu befragen, statt die etischen Urteile von Kritiker:innen zu akzeptieren? 

+++ English Version +++

Cultural relativism as a scientific method

The heuristic method of cultural relativism examines, interprets, and evaluates cultural phenomena within their context, adopting an emic perspective. It frees itself from ethnocentrism by avoiding objective, universal notions and assumptions. The aim of relativism is to hermeneutically understand a foreign perspective. As a result, researchers must display a certain level of ambiguity tolerance and respect towards foreign contexts.

The advantages of relativism lie in enabling researchers to discover and explore alternative perspectives, thus facilitating progressive advancements in science.

To dispel misunderstandings surrounding the concept of relativism, Jiang Tianji first distinguishes between the semantic concept of truth and the epistemic, relative concept of truth (cf. Jiang 1991). On one hand, ‚truth‘ is a semantic concept, describing an objective, absolute reality. On the other hand, the semantic concept of ‚truth‘ must be redefined concerning epistemology; it has to be understood relatively in scientific practice, implying that the acquisition of knowledge is subjective and requires relativity.

Subjectivity and Objectivity

In colloquial language, the adjective ’subjective‘ describes information that is influenced by personal feelings or biases. On the other hand, the adjective ‚objective‘ refers to an approach where information is presented in a factual, emotionless, and unbiased manner. This duality between subjectivity and objectivity also exists in science, but it is often misunderstood.

Relativism first denies the assumption that there is a single, objective, universal world that exists independently of humans. Scientists are often convinced of the notion that so-called facts represent objective information free from subjective attributes. Subjectivity is often negatively connoted and described as unscientific. However, information does not exist independently of its creator, as each piece of information is produced by a subject and carries certain subjective attributes, such as position, perspective, selection, and interpretation.

Objectivity, in its original form, is a human assumption that knowledge, in the form of information, (1) is independent of the perspective of scientists, (2) is independent of the context of the situation and (3) describes a state of reality.

(1) Whether in the form of results from field research or a synthesis of scientific works, knowledge is subject to the (creative) efforts of scientists. These efforts are always based on an individual and personal starting position, perspective, and focus. Scientists, for instance, select their research subjects based on their interests, are influenced by their own assumptions and expectations, and ultimately draw subjective conclusions. The result of these individual insights is relative knowledge. Relative knowledge can still be to some extent generalized and compared with other findings, without losing its relativity.

(2) Knowledge originates from a context and is always constructed. While knowledge can be partially generalized in the form of models to predict certain phenomena by extracting specific insights from their respective contexts, a model always retains a probabilistic predictive power. Considering the complexity of the world, it can be deduced that each context possesses certain particularities. As scientific sensitivity advances, the significance of contextual relativity increases.

(3) Both the assumption that there are objective facts and models, in general, consider reality as a fixed state (or a state that must be held constant.) While there may be certain constants in physics, the social and cultural reality of humans is highly dynamic. Languages, relationships, habits, values, norms, meanings, memories, opinions, and not least preferences, as well as knowledge, are constantly evolving.

Following Pierre Bourdieu, the objectivity of natural sciences is also based on subjective, anthropogenic decisions (cf. Bourdieu 2003). The world of numbers may indeed exist independently of humans, but it appears irrelevant if people do not project it onto reality. No one would dispute the ontology of numbers like „one“ or „two,“ but the interpretation of certain objects as units described by numbers is highly subjective. A chicken can be seen as two half chickens simultaneously.

Critique of Cultural Relativism

Critics often highlight that cultural relativism exhibits certain weaknesses in ethical extreme situations, as the relativistic approach would negate universal ethics. Additionally, there is the accusation that methodological relativism could lead to nihilism.

Among others, Bimal Matilal defends relativism against singularism or pluralism (Matilal 1989). While singularism advocates for only one universal, absolute ideal, and pluralism accepts many different ideals, relativism goes a step further by initially tolerating and respecting transcultural ethics. Matilal confirms that through cultural relativism, researchers cannot make normative statements (ibid.). The interpretation of ethics conflicts with a relativistic perspective. However, evaluating a foreign ethical context is not the aim of cultural relativism. Methodological relativism accepts ethical diversity and explores how and to what extent the foreign ethics differ from one’s own (ibid.).

Relativism allows for transcultural understanding but refrains from evaluation (Jiang 1991). This does not imply that evaluation is impossible (ibid.). Scientists can indeed assess their insights into a foreign culture using their own standards (ibid.). The relativistic method aids scientists in comprehending a foreign cultural context, where understanding does not equate to approval (ibid.). Hence, it is incorrect to assert that (cultural) relativism leads to nihilism (ibid.).

Finally, Matilal posits the theory that there exists a transcultural, minimal, universal moral standard, based on the empirical observation that similar culture-independent human concerns exist in every society (Matilal 1989). This mutual standard lacks the transcultural binding force compared to universalism or singularism. The theory merely attempts to alleviate scientists‘ concerns that different individuals would tend to act similarly in ethical extreme situations. This theory is undoubtedly optimistic and naturally subject to scrutiny.

Quantitative vs. Qualitative Worldviews

Objectivity exists to the extent that it represents a „rough“ consensus among many scientists, providing the standards through which we understand (or should understand) our environment in scientific contexts. For instance, the unit of length, meter, is a fundamental unit in the International System of Units that is socially accepted. Certain unit systems are commonly used, especially in the natural sciences and their commercial applications, and can serve a quantitative worldview. However, it is important to remember that this objectivity does not represent an absolute, universal truth of reality.

In contrast, the humanities focus on a qualitative worldview rather than quantitative research. Specifically, the discipline of ethnology highlights, through its methodological cultural relativism, that alongside the „rough“ consensus on quantitative unit systems, numerous alternative qualitative worldviews coexist. These worldviews might sometimes conflict with the quantitative worldview. Instead of reducing approaches to quantitative methods, cultural relativism proposes accepting and celebrating the particularities of diversity and the resulting ambivalences. It emphasizes that multiple qualitative approaches complement the progress of science.

Relativism in Practice: China vs. the West

China presents itself as an intriguing research field for the application of methodological cultural relativism, yet it also poses a complex challenge. Despite the People’s Republic of China projecting a homogeneous image of its culture through nationalism, it is internally diverse and heterogeneous.

Western media seems to portray the Chinese government with a highly critical lens. The approach of relativism suggests examining the social situation and interpreting the political stance hermeneutically. Even though individual Western scholars may personally harbor skepticism towards Chinese ideology, I believe that China deserves a chance to be treated with scientific tolerance within the framework of relativism before making judgments. The hybrid ideology of Chinese Marxism and nationalism, due to its fundamental divergence from Western approaches, may tempt scholars to apply Western ethical standards to China. However, would it not align with relativism to consult the affected citizens of the People’s Republic of China about the consequences of Chinese (domestic) policies rather than accepting ethical judgments solely from critics?

Literatur

  • Bourdieu, Pierre (2003): Participant Objectivation. J. Roy. anthrop. Inst. (N.S.) 9, 281-294.
  • Matilal, Bimal K. (1991): Pluralism, Relativism, and Interaction between Cultures. In: East-West philosophic questions. East-West Philosophers‘ Conference. Deutsch, Eliot (Editor). 6th : 1989 : Honolulu, Hawaii. University of Hawaii Press. Honolulu.
  • Tianji, Jiang (1991): The Problem of Relativism. In: East-West philosophic questions. East-West Philosophers‘ Conference. Deutsch, Eliot (Editor). 6th : 1989 : Honolulu, Hawaii. University of Hawaii Press. Honolulu.

Autor & Redaktion: Felix Keilhack (LMU)