Wole Soyinka in „Of Africa“ und Ngugi wa Thiong’o in „Wizard of the Crow“: Zwei Literaten zeichnen Afrikabilder. Wie treffen sich darin das Gestern, Heute und Morgen?
Von Rudolf Urban
In einem Literaturseminar bei Frau Dr. Kastner im Sommersemester 2022 mit dem Titel „Afrikanische Denker und Denkerinnen“ wurden zeitgenössische afrikanische Publikationen aus dem akademisch-intellektuellem Umfeld privat gelesen und im Plenum oder Gruppengespräch debattiert, verglichen und eingeordnet. Aufgabe war es einem gemeinsam besprochenen Text, hier Wole Soyinkas Essay „Of Africa“ einen anderen „neuen“ zur Seite zu stellen und diese zu vergleichen, zu kontrastieren oder zu synthetisieren. Der Anspruch dieses kurzen Essays ist es, die Aussagen von zwei unterschiedlichen Autoren aus verschiedenen Nationen mit unterschiedlichen Formaten auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, eine zusammenschauende These als Fazit zu wagen.
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Die beiden großen Männer Afrikas, Soyinka aus Westafrika und Ngugi aus Ostafrika, sind sowohl weltweit berühmte und preisgekrönte Schriftsteller als auch beachtete Intellektuelle. Soyinka, obwohl er in seinem Essay aus und über und von Afrika gern exemplarische Beispiele aus seinem Heimatland Nigeria verwendet, erhebt doch den Anspruch mit und für ganz Afrika zu schreiben, ja darüber hinaus in seinem kosmopolitischen Weltverständnis. So auch Ngugi, den ich hier in erster Linie als Romanautor und Erzähler betrachte, obwohl er auch als Essayist viel zu sagen hat, wie etwa in dem vielbeachteten Werk „Decolonising the Mind“.
Wie will ich diese beiden Autoren über Grenzen der Herkunft und des Genres zusammenbringen? Indem ich sie in erster Linie als Sprache und Bilder Schaffende auffasse und sie als Kreative in ihrem Sprach- und Formenreichtum abzuholen und darin Raum zu geben versuche. Vielleicht kann sich hier zeigen, dass es nicht um einen kunstgeschichtlichen Wettstreit geht – form follows function oder function follows form – sondern dass in einem ganzheitlichen kulturellen und sozialen Raum Form und Inhalt eine Sprache sprechen und gemeinsame Ziele haben.
Im ersten Teil seines Essays arbeitet sich Soyinka Zug um Zug von der Vergangenheit in die Gegenwart vor. Er stellt die Frage, ob Afrika der „dunkle Kontinent“ ist – wie für uns Europäer oft stereotypisch das „Dunkle Mittelalter“ steht – oder ob das nicht eher im Auge des Betrachtenden liegt, an seinem „grauen Star“? Liege es nicht eher daran, dass Afrika für viele „unsichtbar“ ist. So zeigt er uns die Vielfalt und Multivokalität Afrikas an negativen Beispielen wie etwa den Genoziden in Rwanda, Darfur und Sudan als auch an positiven wie etwa der von dem südafrikanischen Bischof Desmond Tutu propagierten, verbreiteten und gelebten „ubuntu“-Philosophie.
Mit der zusammenfassenden Überleitung, die Geschichte jeglicher Form gewalttätiger Vertreibung sei die Geschichte vom Genozid, dessen Name fast das ganze Szenario umfasst, das momentan unaufhörlich inszeniert und reinszeniert wird in diesem Kontinent, vielleicht am systematischsten im Sudan. Die internationale Kriminalität der Vergangenheit habe sich übersetzt in die Straffreiheit der Gegenwart. Solange die Vergangenheit fiktionalisiert oder verleugnet werde, sei Afrika dem Fluch der Wiederholung unterworfen… während die restliche Welt sich ausruht unter dem Schatten des Baums des Vergessens (Soyinka: 66).
„The Tree of Forgetfulness“ ist ein großes schauriges Bild, von dem Soyinka selber sagt, ihm wäre es lieber gewesen, die Welt hätte dieses spezielle Ritual nie gekannt, das historisch an der Küste der alten Stadt Oidah sich ereignete und dessen Schauplatz, der Baum mit eben diesem Namen war. Seine Aufgabe war es die gefangenen Sklaven vor der endgültigen Einschiffung nach Übersee einem rituellen Vorgang zu unterwerfen, in dem sie den Baum in Kreisform umrunden mussten. Das Ziel war, sie ihr Land, ihre Heimat, ihre Verwandtschaft und ihre ehemaligen Arbeitsumstände vergessen zu machen – kurzum ihre ehemalige Existenz. Ihr Gedächtnis der Vergangenheit sollte ausradiert werden und bereit gemacht für die Ein-Drücke fremder Orte. Eine weitere Interpretation war, dass, falls sie bei der Überfahrt oder im Exil sterben sollten, sie als Geister zurückkehren und sich als Opfer an den „Fleisch-Verkäufern“ rächen könnten.
Natürlich vergaßen die Sklaven nie! Der Vergessensbaum existiert immer noch und legt Zeugnis ab von den Gräueltaten der Sklavenjagd und des Sklavenhandels. Neben ihm ein sogenannter „tell-tale-mound“, ein Hügel, der die sterblichen Überreste derer konserviert, die sich der Zwangsbeförderung durch Rebellion, Verweigerung oder Flucht entziehen wollten. Sie wurden „abgeschlachtet“ (ebda: 67-68). Neben der Analyse und Anschaulich-Machung der Zeit des transnationalen und interkontinentalen Sklavenhandels vergisst Soyinka nicht, alle Menschen aus allen Zeiten und Orten zu erinnern an den symbolischen Vorgang der biblischen Vertreibung aus dem Paradies nach dem Essen der verbotenen Frucht und dem ewigen Verdammt-Sein zu Gewalt und Vertreibung. Die Geschichte der Gewalt beschränkt er nicht nur auf Afrika, sondern zählt Beispiele aus aller Welt auf einschließlich des deutschen Phänomens des Holocaust. So kam es immer und immer wieder, hier und dort, zu der traurigen Erkenntnis und dem daraus abgeleiteten Anspruch: Nie wieder – never again! Er ist nicht gerne Pessimist, aber als Realist muss er konstatieren, dass die heutige Realität diesem Anspruch Hohn spricht und dass der „Tree of Forgetfulness“ ein massives „ironisches Emblem“ sei, dass sich diesem Anspruch verweigert und den Anspruch des „Niemals wieder“ unerfüllt lässt (ebda.: 89).
Im zweiten Teil des Essays widmet sich Soyinka dem Thema des Körpers und der Seele unter kulturhistorischen und -anthropologischen Aspekten aus der Sicht eines nigerianischen Kulturschaffenden und Afrikaners, aber auch aus globaler. Im Zentrum steht die Spiritualität seines Kontinents, es geht um Religionen und ihr Verhältnis untereinander, sozial und existenziell. Er beschreibt die Orisa-Religion der Yoruba Ethnie in Nigeria als eine praktische Anleitung, als Guide zu einer gelungenen menschlichen Existenz, die ohne Mission oder Hegemoniegedanken, ohne eine orthodoxe Glaubenslehre oder absoluten Wahrheitsanspruch auskommt. Ihre gelebte Spiritualität ist im Einklang mit den Werten des Humanismus, ihre Grundlage sind Toleranz und ein stetiges sich auf den Weg Machen und Suchen (constant quest).
In einem Zweig ihrer praktischen Ausprägung beschäftigt sich diese Orisa-Religion mit traditionellem Heilen und Pharmakologie, basierend auf vielen Geschichten in Versform, die als „odu of Ifa“ gesammelt und von der UNESCO als Weltkulturerbe anerkannt sind. Deren Heiler werden als „babalawo“ bezeichnet. Wie ein westlicher Heiler hielt er Konsultationen und verschrieb am Ende Medikationen. Dieser Vorgang soll nicht im Einzelnen besprochen werden, er beinhaltete rituelle Formen und Rezitationen, aber das Entscheidende war, dass der Heiler den Patienten oder die Patientin aktiv in den Prozess einbezog, der letztendlich zur (Selbst-)Diagnose und (Selbst-)Medikation mit beitrug. Zum Medikament kamen oft noch eine Opfergabe und eine zuhause auszuführende Prozedur mit rituellen Aufgaben hinzu. Darüber hinaus gibt es noch in ganz Afrika die sogenannten „bone-setters“, die vielleicht annähernd als Orthopäden mit osteopathischem Hintergrund bezeichnet werden können. Soyinka beschreibt an einem ihm persönlich bekanntem Fall die Anwendung dieser Praxis als „unsichtbares Wissen“. Ein junger ghanaischer Arbeiter erleidet beim Container-Entladen im Hafen eine schwere Wirbelsäulenverletzung. Die westliche Medizin und ihre Kliniken können ihm nicht helfen. Nach mehreren chirurgischen Eingriffen und massiver Medikation weiß sich die westliche Ärzteschaft nur mehr einen Rat – lebenslange Schmerztherapie. Nach mehren vereitelten Suiziden ergreift er, der Rollstuhl-Patient, die sich ihm spontan bietende Chance in einer Klinik, die mit traditioneller Medizin arbeitet. Nach einer vier- bis fünfwöchigen Therapie mit einer pflanzlichen Medizin ist er geheilt und kann sich wieder selbsttätig bewegen. Das Heilverständnis und die Praxis eines afrikanischen Glaubenssystems, das mit der Gottheit „ase“ verbunden ist und die Natur, sowohl als Ernährer als auch Heiler, mit der menschlichen Psyche verknüpft mit dem Ziel, die körperliche und soziale Gesundheit herzustellen, (ebda.: 125-126) sind erfolgreich.
In Ngugis, auf Kukuyu geschriebenen und dann ins Englische übersetzten Roman, taucht ein junger arbeitssuchender Student Kamiti auf, der durch Zufall zum Heiler und „Wizard of the Crow“ wird. Sein erster prominenter Klient ist ein hoher erfolgreicher Verwaltungs-Funktionär namens Tajirika, dessen Frau ihn zu diesem Zauberer gebracht hatte, nachdem alle anderen ärztlichen Versuche gescheitert sind. Seine Krankheit ist das Vergessen, genauer das Vergessen der Sprache. Er stammelt nur noch „If“ oder „If not“. Der Spiegel vor dem Klienten ist das erste und zentrale Mittel des Zauberers Kamiti. Dieses gespiegelte Selbstbildnis zieht den Klienten an wie Motten das Licht und er beginnt sich zu kratzen, ein weiteres Symptom. Dann tritt ihm der Heiler in Person gegenüber, indem er den Spiegel wegnimmt, ihm in die Augen blickt und ihn auffordert, die Wörter auszuspucken, gut oder schlecht, die sich an das „If/If not“ anreihen.
Nach vielem Auffordern und Nachhaken ergibt sich letztendlich der vollständige Satz: „If only my skin were white like a white man’s skin!“ Der Zauberer diagnostiziert, er leide an einer schweren Form von „white-ache“ (Ngugi: 179:180). Dieser postkoloniale Zauberer hat das schwelende Problem des afrikanischen Menschen exemplarisch erkannt, die fehlende Würde und Selbstachtung als afrikanischer Mensch und als afrikanische Gemeinschaft. Das gilt in diesem satirischen Roman, der an „oral history“ angelehnt ist, für alle Subalternen, nicht jedoch für die herrschende Elite und speziell für den herrschenden Potentaten. Er, der Mächtige, Schöne, Weise und Potente, der nur als „Ruler“ bezeichnet und verehrt wird, umgeben von seinen Hofschranzen, fällt nach einer tiefen Kränkung in eine unerhörte und untherapierbare Krankheit, die die westlichen Experten als SIE – self induced expansion – klassifizieren. Der postkoloniale Zauberer löst diese Sprechhemmung und in Folge ebenso die „Aufblasung“ des Körpers mit den gleichen Methoden auf, dem Spiegel (der Selbst-Erkenntnis) und der Sprechkur des assoziativen Hervorbringens von Worten. Mit viel Geduld und Nachdruck kommt folgender Satz aus dem Mund des Herrschers: „If I had been white, would they have done what they did to me? (ebda.: 491)“. Er erfährt die Demütigung, die seine Subalternen von ihm als schwarzen Herrscher erfahren haben, als schwarzer Subalterner der weißen Herren.
So wie der „Baum des Vergessens“ und der „Erzähl die Geschichten Hügel“ in einer eindrücklichen und eindringlichen Bildsprache die Gewalt und das Elend des transatlantischen Sklavenhandels auf den Punkt bringen, so entlarvt Kumitis Spiegelzauberei die Doppelbödigkeit der nachkolonialen afrikanischen Ordnungen, deren Herren und Diener. Das Spiel von Macht und Ohnmacht, von Dominanz und Inferiorität zeigt deutlich, dass die Strukturen und Ideologien des weißen Kolonialismus in die schwarze Kolonialität nachwirken in Form der „weißen Krankheit“ als einer Art transgenerationaler Erblast. Sowohl Soyinka als auch Ngugi stimmen hoffnungsvoll, wenn sie auf die aktuellen Ressourcen, deren Resilienz und Potenzialität hinweisen, sei es in Form von „therapeutischen Spiegeltätigkeiten“, Heilungen, praktischen Theorien und Handlungsmacht. Auch die globale Welt kennt oben und unten, Macht und Ohnmacht, Herrschertum und Subalternität. Sie ist geprägt von struktureller Kolonialität, Rassismus und Hegemonialität. Wo ist ein Ausweg aus diesem Dilemma und wie kann ein Weg der menschlichen Zukunft ausschauen? Weg von Kolonialität, Rassismus und Hegemonialität, weg vom „Tree of Forgetfulness“, von den machtbesessenen, eifersüchtigen Ideologien, von aufgeblasener Hybris und jeder Form von Gewalt hin zu einer Menschlichkeit in Toleranz und geduldiger Suche und nicht nachlassendem Fortschreiten! Soyinka gibt im Schlussakkord seines Essays der Hoffnung Ausdruck, Afrika möge sich nicht mit seiner permanenten Opferrolle fremder Dichotomien zufriedengeben und einen neuen Aufstieg zu seiner und auch der globalen Menschlichkeit beginnen. In einer sehr optimistischen Perspektive könne Afrika darin mit seiner Existenzform der Gemeinschaft und Toleranz eine vitale Rolle im globalen Diskurs als Vermittler einnehmen.