Das Rhizom – Metaphern in der Wissenschaft
Das Rhizom – Metaphern in der Wissenschaft

Das Rhizom – Metaphern in der Wissenschaft

Das Rhizom – Metaphern in der Wissenschaft

Inwiefern ist das „Rhizom“ (1976) von Gilles Deleuze und Félix Guattari nützlich für Ethnolog:innen? Beide Autoren schlagen vor, Leser:innen könnten sich dessen metaphorischen Werk frei bedienen. Foucault meinte, ein Buch sei wie ein Werkzeugkasten, und Proust behauptete, sein Buch sei eine Brille (Deleuze und Guattari 1977, 40). In diesem Aufsatz frage ich nach der Rolle von Metaphern in der Wissenschaft und schließe mit Anwendungsbeispielen für das Rhizom in der Ethnologie. Quellen befinden sich im PDF.

Metaphern in der Wissenschaft als Bildworte oder Analogien finden ihren Ursprung in der griechischen Antike zur Konstruktion von Denkmodellen (Hall und Ames 1995, 40–55). Um einen Glauben, eine Doktrin oder ein Prinzip zu erklären, ja, zu rechtfertigen, bedurften Denker:innen imaginärer Modellen in Form von „unterdrückten Metaphern“, um ihre direkten Intentionen zu verschleiern. Metaphern wurden insofern objektiviert, dass sie von jeglicher Intention der Theoretiker:innen abgekapselt wurden.

Ein Beispiel dafür ist Leukippus und Demokritus Theorie der Atome, die das Bild von nicht zerteilbaren Teilchen kreierten. In Kombination mit der Kausalität als erstes Prinzip der Begründung einer Theorie entstand das rationale Denken, das eine sachliche Objektivität voraussetzte, vermeintlich unbefleckt von Anthropomorphismen und Anthropozentrik (vgl. u.a. Hall und Ames 1995, 52–54). Die Suche nach der universellen, objektiven Wahrheit bildete dabei das Ziel einer Vernunft-getriebenen Wissenschaft, die ihren Höhepunkt in der Strömung der Moderne erreichte. Wahrheit mutierte sogar zu einem Ausschließungssystem im wissenschaftlichen Diskurs (Foucault 1974, 13ff.).

Heute erinnert der wissenschaftliche Diskurs an eine Garderobe, an der Wissenschaftler:innen ihre Ergebnisse und Erfahrungen aufhängen, bis die ursprünglichen Haken unter den Jacken nicht mehr sichtbar sind. „Literatur ist eine Verkettung“ (Deleuze und Guattari 1977, 7). Zum Rekurs auf vorgehende Denker:innen (Hall und Ames 1995, 55) in Form von Kommentaren (Foucault 1974, 18ff.), meint Montaigne, dass wir mehr Bücher über Bücher haben, als Bücher über Dinge (vgl. Ratcliffe 2017). Ein „Tintenkleksendes Seculum“, wohl wahr (Schiller 2015, 27). Doch ein theoretischer Fetischismus ist zu viel des Guten (Hage 2016). Ockhams Rasiermesser.

Metaphern werden in den Wissenschaften häufig verwendet. Den objektiven Idealismus drückt Platon durch sein Höhlengleichnis aus (Hall und Ames 1995, 68–69). Das Gefangen-sein in Bürokratie und im Rationalismus des modernen Staates illustriert Max Weber mit dem Bild eines eisernen Käfigs (Weber 2006). Die Trennung von Subjekt und Objekt beschreibt Bruno Latour mit dem Geist im Gefäß (Latour 2000, 13ff.). Sind wir gefangen in unserer Gehirn-Zelle? Die antike Teleologie sowie die moderne Ontologie geben die Basis für das Verständnis und die Betrachtung der Welt. Dabei wirken Repräsentationen der Realität statisch, homogen, aus dem Kontext gerissen und in Begriffe sowie Kategorien gepresst. Doch die tatsächliche(n) Realität(en) sind äußerst dynamisch, heterogen, partikular, komplex und lassen sich nur durch das Miteinbeziehen des jeweiligen Kontextes nachvollziehen. Roger Ames und David Hall plädieren mit ihrem Ansatz des interpretativen Pluralismus für mehr Offenheit durch Vagheit und ein ästhetisches Denken, das Diversität im Diskurs zulässt (vgl. Hall und Ames 1995, 144ff.). Auch das Rhizom ist als experimentelle Vorgehensweise ein theoretisches Konzept, das Leser:innen über die Interkonnektivität von Phänomenen bewusst werden lässt und das Leser:innen motiviert bisherige Denkstrukturen zu reflektieren.

Ein Rhizom ist eine unterirdische Sprossachse einer bestimmten Pflanzenart. Deleuze und Guattari verwenden das Rhizom als Metapher mit den Eigenschaften eines dezentralisierten, hierarchielosen und verketteten Netzwerks (Deleuze und Guattari 1977). Mit dieser Metapher lassen sich Phänomene und Prozesse in der Realität beschreiben, wie zum Beispiel den wissenschaftlichen Diskurs, soziale Interaktionen im Allgemeinen oder den Begriff der Kultur. Dem Rhizom steht die Metapher des Baumes sowie der Wurzeln gegenüber.

Der Baum sowie die Wurzel beinhalten eine hierarchische, einheitliche Struktur. Der Baum spiegelt eine bestimmte Welterfahrung wider, bei der die Realität durch eine rationale sowie lineare Denkweise wahrgenommen, ja, kategorisiert wird, wodurch Komplexität reduziert wird. Während der Baum Monismus repräsentiert, so steht das Rhizom für Pluralismus. Während der Baum sich selbst in der Form seiner Blätter kopiert, so ist es Deleuze und Guattari mit dem Begriff des Rhizoms möglich, Vielheit darzustellen durch Kartographie und Dekalkomonie (Deleuze und Guattari 1977, 20ff.), indem sie unterschiedliche Dinge mitsamt ihren Verhältnissen in das Rhizom einspannen und einbetten. Während der Baum einen „Strukturfetischismus“ repräsentiert, so geht es beim Rhizom um die Koexistenz von Möglichkeiten, ähnlich zu Bourdieus Habitus (Bourdieu 1987).

Es gibt einige Ähnlichkeiten zwischen dem Konzept des Rhizoms und der Netzwerk-Akteur-Theorie von Bruno Latour: Beide Systeme funktionieren ohne Hierarchie. Die Metapher der Maschine (Deleuze und Guattari 1977, 7) könnte eine Abstraktion der konkreten Akteur:innen sowie Aktanten sein (vgl. Latour 2000). Das Ziel beider Theorien ist die Erweiterung der Perspektive und der Fokus auf die Interkonnektivität zwischen allen Dingen. Während Latour alle Akteur:innen sowie Aktanten gleichberechtigt betrachtet, inwiefern sie sich gegenseitig Handlungsmöglichkeiten geben, so fokussieren sich Deleuze und Guattari mehr auf Flows sowie Linien als Strömungen (oder Handlungsspielräume) von Agent:innen und plädieren zuletzt für eine neue Art, Raum und Zeit zu verstehen.

Das Rhizom von Deleuze und Guattari teilt den Zeitgeist der Postmoderne. Ihr Werk motiviert zum transdisziplinären Arbeiten; so sieht sich der multimodale Ansatz der Ethnologie bestätigt, die Strukturen des wissenschaftlichen Diskurses zu hinterfragen und zu überwinden. Mit dem Gebrauch der zahlreichen Metaphern verschwimmt auch die Grenze zwischen Kunst und Wissenschaft. In der Ethnologie lässt sich der Begriff des Rhizoms für das Beschreiben von Migration, dem Cyberspace und der Kultur verwenden. In meiner Bachelorarbeit identifiziere ich künstliche Intelligenzen als probabilistisches Rhizom (Keilhack 2023a). Darüber hinaus spekuliere ich, ob das probabilistische Rhizom nicht gleichzeitig auch eine Teilversion der Kultur darstellt (Keilhack 2023b).


Autor & Redaktion: Felix Keilhack (LMU)