Semantisches Begriffslexikon
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Semantisches Begriffslexikon

Auf Anfrage von Leser:innen hat die Kulturschock ein kleines Begriffslexikon erstellt. Ziel ist es, einen produktiven und progressiven Diskurs zu fördern, um semantische Konflikte zu vermeiden. Dieser Beitrag fokussiert sich auf den Wortschatz um die dritte Ausgabe der Kulturschock mit dem Thema „China & Transkulturelles Verstehen.“

Stand: 04.09.2023

  • Dualismus: Dualismus ist eine philosophische Idee, die die Existenz von zwei grundlegend verschiedenen Substanzen postuliert: Geist und Materie. Diese Theorie besagt, dass Geist und Körper getrennte Entitäten sind, die auf unterschiedliche Weisen existieren und interagieren. Ein berühmtes Beispiel für Dualismus stammt von René Descartes, der die Trennung von Geist (Denken) und Körper (Ausdehnung) betonte.
  • Idealismus: Der Idealismus als eine philosophische Strömung verwendet einen Dualismus und vertritt die Vorstellung, dass die Realität in erster Linie geistig oder ideell ist. Idealismus als Position ist also ein bestimmter Ausgangspunkt, bei dem angenommen wird, dass die Dinge der Welt hinter ihrer Materialität ein geistiges Ideal, Konzept oder eine Idee besitzen. Diese Ideale seien unabhängig vom Menschen universell und absolut.
  • Ideologie: Eine Ideologie ist ein systematisches Set von Überzeugungen, Werten und Ideen, das oft als Leitfaden für soziale, politische oder kulturelle Handlungen dient. Diese Ideen können eine bestimmte Weltanschauung, politische Ausrichtung oder soziale Philosophie repräsentieren und beeinflussen, wie Menschen die Welt sehen und wie sie in ihr handeln. Ideologien können verschiedene Bereiche abdecken, einschließlich Politik, Religion, Wirtschaft und Gesellschaft.
  • Individualismus: Individualismus ist eine soziale und philosophische Ideologie, die die Autonomie und die Eigenverantwortung des Einzelnen betont. Sie legt großen Wert auf persönliche Freiheit, Unabhängigkeit und die Fähigkeit, individuelle Entscheidungen zu treffen, ohne starke staatliche oder kollektive Kontrolle. Individualismus als Position tendiert in den Wissenschaften, Objekte individualisiert zu betrachten, statt im Kontext. In den Geisteswissenschaften  wird deutlich, dass Personen aus ihrem sozialen Kontext zu verstehen sind, also in Relation zu anderen Menschen.
  • Kapitalismus: Unter anderem in der Ethnologie wird der „Kapitalismus“ Begriff holistisch betrachtet, nicht nur als ein wirtschaftliches, sondern auch als ein gesellschaftliches System. Einerseits fördert Kapitalismus Demokratie und Menschenrechte. Andererseits wird Kapitalismus als Vehikel für neokolonialistische und imperialistische Machtstrukturen betrachtet, meist mit einer zerstörenden Tendenz.
  • Marxismus: Der Marxismus ist eine soziale, politische und wirtschaftliche Ideologie, die auf den Ideen von Karl Marx und Friedrich Engels basiert. Dabei gibt es heute viele verschiedene Strömungen (siehe Wikipedia). Marx beschreibt in seinem Werk „Das Kapital“, dass mit der Veränderung der Produktionsverhältnisse im Kapitalismus die Kapitalist:innen das Surplus bei der Mehrwertschaffung von den Arbeiter:innen extrahieren. Langfristig entsteht eine Klassengesellschaft aus privilegierten Kapitalist:innen und einem sozial-schwachen Proletariat. Wir verstehen Marxismus als Kapitalismuskritik: es geht darum, bestehende Problematiken zu erkennen und Lösungen zu erarbeiten sowie umzusetzen, im Sinne eines Revisionismus oder einer Revolution.
    • Chinesischer Marxismus: Der chinesische Marxismus ist eine Ideologie, die internationale und globale Machtstrukturen kritisiert. Ziel sei eine Unabhängigkeitsbewegung sowie ein Emanzipationsprozess Chinas gegenüber dem als Bedrohung empfundenen Westen. 
  • Moderne: Die Moderne ist ein breiter historischer und kultureller Begriff, der eine Epoche der Geschichte und eine geistige Haltung beschreibt, die etwa vom späten 18. bis zum 20. Jahrhundert reicht. Darüber hinaus beeinflusst sie noch heute das Denken in Wirtschaft, Politik, Gesellschaft, Kultur und Wissenschaft. Diese Periode war geprägt von Industrialisierung, Urbanisierung, wissenschaftlichem Fortschritt und neuen Denkweisen, die traditionelle Strukturen und Normen in Frage stellten. Auch andere Nationalstaaten wie China können eine ähnliche Moderne erleben.
  • Modernisierung: Modernisierung bezieht sich auf den Prozess der Einführung neuer Technologien, Ideen, Institutionen und sozialer Strukturen, um eine Gesellschaft auf einen „aktuellen“ Stand der Entwicklung zu bringen. Dieser Prozess zielt oft darauf ab, wirtschaftlichen Fortschritt, soziale Veränderungen und eine verbesserte Lebensqualität zu fördern. Modernisierung kann sich auf verschiedene Bereiche beziehen, einschließlich Wirtschaft, Bildung, Gesundheitswesen und Politik.
  • „Moderne Trinität“: Mithilfe des Begriffs der Modernen Trinität beschreiben wir den Zusammenhang von Kapitalismus, Demokratie und dem sogenannten Rationalen Denken nach Roger Ames. Es skizziert ein Forschungsfeld, in dem Individualismus und Imperialismus reflektiert und problematisiert werden. (Mehr dazu hier).
  • Objektivität: Im Umgangssprachlichen bezieht sich Objektivität auf die Eigenschaft eines Standpunkts, der frei von persönlicher Voreingenommenheit oder Emotionen ist und auf Fakten und Nachprüfbarkeit basiert. In Kombination mit dem Idealismus beschreibt Objektivität als Annahme der Moderne einen allgemeingültigen Zustand von Informationen, die absolut, universell und unabhängig vom Menschen oder Kontext existieren. Diese Vorannahme gilt als falsch und veraltet. Objektivität existiert insofern, dass objektives Wissen unter anderem nachprüfbar sowie falsifizierbar ist, dass die Bedingungen der Wissensproduktion reflektiert werden (können) und dass Wissenschaftler:innen einen (allgemeinen) Konsens bilden.
  • Ontologie: Ontologie ist ein Bereich der Philosophie, der sich mit der Frage nach der Natur des Seins und der Existenz befasst. Sie untersucht, was wirklich existiert und wie diese Existenz beschrieben oder kategorisiert werden kann. Ontologische Fragen drehen sich oft um Konzepte wie Substanz, Eigenschaften, Identität und die grundlegenden Elemente der Realität.
  • Pluralismus: Pluralismus bezieht sich auf die Existenz oder Akzeptanz von Vielfalt, Unterschieden und verschiedenen Ansichten in einer Gesellschaft, einem politischen System oder einer Organisation. Es betont die Idee, dass unterschiedliche Meinungen und Interessen koexistieren und in den Entscheidungsprozess einbezogen werden sollten. Pluralismus fördert die Vielfalt, die Meinungsfreiheit und den Ausgleich zwischen verschiedenen Gruppen oder Ideen.
  • Rationalität: Rationalität (Vernunftsdenken), auch „rationales Denken“ oder das „rationale Paradigma“, verwenden wir nach David Hall und Roger Ames. Rationalität sei ein bestimmter Denktyp, der seinen Ursprung in der Strömung der Moderne findet. Das rationale Denken basiert auf den Vorannahmen, dass eine gemeinsame Realität existiert, die sich durch die Anwendung von Logik entschlüsseln lässt, weil die Realität sich auf quantifizierbare sowie kausale Relationen reduzieren lässt. Rationales Denken verwendet einen Dualismus, um die Realität zu verstehen. Das rationale Denkmuster gilt als falsch und veraltet.
  • Relativismus: Relativismus als eine philosophische Position betont, dass Wahrheit, Moral und Werte in Bezug auf den Kontext oder die Perspektive variieren können. Dies bedeutet, dass es keine absoluten oder universellen Wahrheiten gibt, sondern dass alles relativ zur jeweiligen Kultur, Zeit oder individuellen Meinung betrachtet werden sollte. Demgegenüber kann Relativismus als wissenschaftliche Methode verstanden werden. Als methodische Herangehensweise zielt der Relativismus darauf, Zusammenhänge aus der emischen Perspektive zu verstehen. Der ethnologische Blick sei ein Beispiel für den methodischen Relativismus.
  • Subjektivität: Subjektivität bezieht sich im Allgemeinen auf die individuelle Sichtweise, Meinung und Wahrnehmung einer Person, die von ihren persönlichen Gedanken, Gefühlen und Erfahrungen geprägt ist. In der Wissenschaft ist Wissen insofern subjektiv, dass Informationen abhängig von der Position, Perspektive, Interpretation sowie vom Ausschnitt der Realität(en) sind. 

Wie ist unsere Realität zu verstehen?

Informationen existieren nicht unabhängig von ihrem Subjekt. Informationen unterliegen einer Position, einer Perspektive, einer Interpretation und einem Ausschnitt der beobachteten Realität, durch ein Subjekt. Wissenschaftler:innen als Subjekte der Wissensproduktion müssen sich der Subjektivität ihrer Informationen bewusst sein.

Mithilfe dieser Skizze lassen sich einige Begriffe einordnen: 

  1. Die Position ist der Ausgangspunkt des Subjekts. Dieser Ausgangspunkt umfasst Vorannahmen darüber, wie unsere Realität(en) zu begreifen sind. Beispiele hierfür sind Idealismus, Pluralismus oder Relativismus. Ferner lassen sich Positionen auch als Ideologien bezeichnen.
  2. Die Perspektive ist die Herangehensweise, also die wissenschaftliche Methode, mit der die Realität(en) untersucht wird. Beispiele hierfür ist der methodische Relativismus. Oft sprechen Ethnolog:innen vom sogenannten „ethnologischen Blick“, der unter anderem einen methodischen Kulturrelativismus beinhaltet.
  3. Der Interpretationsprozess folgt einer bestimmten Technik, die ich hier in Denktypen kategorisiere. Der rationale Denktyp ist dabei eine Kombination aus Logik, Kausalität und ambitionierten Vorannahmen. Auf einer Mikroebene beeinflussen auch Traditionen und Sprachen das Denken. Während die deutsche Sprache die Realität in Nomen ausdrückt, so scheint die Realität (relativ) statisch geordnet. Die chinesische Tradition hingegen beschreibt Realitäten mit einem dynamischen Wortschatz des Prozesses.
  4. Die Realität(en) als Untersuchungsobjekt(e) umgibt eine gewisse Unschärfe. Wissenschaftler:innen legen innerhalb ihrer Ausgangsposition die Art und Weise der Weltanschauung normativ fest. Diese Weltanschauung ist jedoch auf gar keinen Fall holistisch, absolut oder universell-gültig. Empirische Ergebnisse bei der Untersuchung der Realität(en) bilden nur eine mögliche Version ab. 

+++ English Version +++

Semantic Concept Lexicon

In response to requests from our readers, die Kulturschock has compiled a concise concept lexicon. The aim is to promote productive and progressive discourse to avoid semantic conflicts. This contribution focuses on the vocabulary surrounding the third edition of die Kulturschock, themed „China & Transcultural Understanding.“

Date: September 4, 2023

  • Dualism: Dualism is a philosophical concept that postulates the existence of two fundamentally different substances: mind and matter. This theory posits that the mind and body are separate entities that exist and interact in distinct ways. A notable example of dualism comes from René Descartes, who emphasized the separation of the mind (thought) and the body (extension).
  • Idealism: Idealism, as a philosophical movement, employs a dualism and advocates the notion that reality is primarily mental or ideal in nature. Idealism, as a position, represents a specific standpoint wherein it is assumed that things in the world possess a mental ideal, concept, or idea behind their materiality. These ideals are considered universally and absolutely independent of humans.
  • Ideology: An ideology is a systematic set of beliefs, values, and ideas often serving as a guide for social, political, or cultural actions. These ideas can represent a particular worldview, political orientation, or social philosophy and influence how people perceive the world and how they act within it. Ideologies can encompass various domains, including politics, religion, economics, and society.
  • Individualism: Individualism is a social and philosophical ideology that emphasizes the autonomy and personal responsibility of the individual. It places significant value on personal freedom, independence, and the ability to make individual decisions without strong state or collective control. Individualism as a position tends to view objects in the sciences as individualized rather than in context. In the humanities, it becomes evident that individuals should be understood within their social context, in relation to other people.
  • Capitalism: In various fields, including ethnology, the concept of „capitalism“ is considered holistically, not only as an economic but also as a societal system. On one hand, capitalism promotes democracy and human rights. On the other hand, capitalism is seen as a vehicle for neocolonialist and imperialist power structures, often with a destructive tendency.
  • Marxism: Marxism is a social, political, and economic ideology based on the ideas of Karl Marx and Friedrich Engels. Today, there are many different currents within Marxism (see Wikipedia). Marx describes in his work „Das Kapital“ that with the change in production relations in capitalism, capitalists extract surplus value from labour workers. In the long term, this leads to a class society with privileged capitalists and a socially disadvantaged proletariat. We understand Marxism as a critique of capitalism: its aim is to recognize existing problems and develop and implement solutions, whether through revisionism or revolution.
    • Chinese Marxism: Chinese Marxism is an ideology that critiques international and global power structures. Its goal is an independence movement and an emancipation process for China in response to perceived threats from the West.
  • Modernity: The modern era is a broad historical and cultural concept that describes a period of history and a mindset extending from the late 18th to the 20th century. Furthermore, it continues to influence thinking in economics, politics, society, culture, and science today. This period was characterized by industrialization, urbanization, scientific progress, and new ways of thinking that challenged traditional structures and norms. Other nations, such as China, may also experience a similar modern era.
  • Modernization: Modernization refers to the process of introducing new technologies, ideas, institutions, and social structures to bring a society to a ‚contemporary‘ state of development. This process often aims to promote economic progress, social change, and an improved quality of life. Modernization can pertain to various areas, including economics, education, healthcare, and politics.
  • ‚Modern Trinity‘: Using the concept of the Modern Trinity, we describe the relationship between capitalism, democracy, and what Roger Ames refers to as Rational Thinking. It outlines a research field where individualism and imperialism are reflected upon and problematized. (More information can be found here).
  • Objectivity: In colloquial language, objectivity refers to the quality of a perspective that is free from personal bias or emotions and is based on facts and verifiability. In combination with idealism, objectivity, as a concept of modernity, describes a universally applicable state of information that exists absolutely, universally, and independently of humans or context. This assumption is considered incorrect and outdated. Objectivity exists in the sense that objective knowledge is verifiable and falsifiable, that the conditions of knowledge production can be (and should be) reflected upon, and that scientists reach a (general) consensus.
  • Ontology: Ontology is a branch of philosophy that grapples with questions about the nature of being and existence. It explores what truly exists and how this existence can be described or categorized. Ontological inquiries often revolve around concepts such as substance, properties, identity, and the fundamental elements of reality.
  • Pluralism: Pluralism pertains to the existence or acceptance of diversity, differences, and various viewpoints within a society, political system, or organization. It emphasizes the idea that different opinions and interests can coexist and should be incorporated into the decision-making process. Pluralism promotes diversity, freedom of expression, and a balance among different groups or ideas.
  • Rationality: Rationality (reasoning), also referred to as ‚rational thinking‘ or the ‚rational paradigm,‘ is employed according to David Hall and Roger Ames. Rationality is a specific mode of thought that finds its origins in the modern era. Rational thinking is based on the assumptions that there exists a shared reality that can be deciphered through the application of logic, as reality can be reduced to quantifiable and causal relations. Rational thinking employs a dualism to comprehend reality. This rational thought pattern is considered incorrect and outdated.
  • Relativism: Relativism, as a philosophical position, emphasizes that truth, morality, and values can vary in relation to the context or perspective. This means that there are no absolute or universal truths; instead, everything should be considered relative to the respective culture, time, or individual opinion. Conversely, relativism can be understood as a scientific method. As a methodological approach, relativism aims to understand relationships from an emic perspective. Ethnological observation is an example of methodological relativism.
  • Subjectivity: Subjectivity generally refers to an individual’s perspective, opinion, and perception shaped by their personal thoughts, feelings, and experiences. In science, knowledge is subjective to the extent that information depends on one’s position, perspective, interpretation, as well as the selection of experience in reality(ies) being considered.

How is our reality to be understood?

Information does not exist independently of its subject. Information is subject to a position, a perspective, an interpretation, and a segment of observed reality, through a subject. Scientists, as subjects of knowledge production, must be aware of the subjectivity of their information.

With the aid of this outline, several terms can be categorized:

  1. The position serves as the starting point for the subject. This starting point encompasses presuppositions about how to comprehend our reality(-ies). Examples of these are idealism, pluralism, or relativism. Positions can also be referred to as ideologies.
  2. The perspective is the approach, that is, the scientific method with which reality(-ies) is examined. An example of this is methodological relativism. Ethnologists often speak of the so-called „ethnological gaze,“ which includes, among other things, a methodological cultural relativism.
  3. The process of interpretation follows a specific technique, which I categorize here as types of thinking. The rational mode of thinking is a combination of logic, causality, and ambitious assumptions. On a micro level, traditions and languages also influence thinking. While the German language expresses reality in nouns, thus implying a relatively static order, Chinese tradition describes realities with a dynamic vocabulary of processes.
  4. The reality(-ies) as the object(s) of investigation is surrounded by a certain degree of ambiguity. Within their starting positions, scientists normatively define their worldview. However, this worldview is by no means holistic, absolute, or universally applicable. Empirical results in the examination of reality(-ies) represent only one possible version.

Autor & Redaktion: Felix Keilhack (LMU)


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